© 2019 Zentrum gegen Vertreibungen
z-g-v.de
Das von den Türken beherrschte Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat. Es umfasste neben weiten Teilen Vorderasiens und Nordafrikas den Großteil der Balkanhalbinsel. Im 19. Jahrhundert setzte, bedingt durch imperiale Überdehnung sowie Reform- und Modernisierungsversäumnisse, ein schleichender Niedergang ein. Die Großmächte Russland, Österreich, Großbritannien, Frankreich, Italien und Deutschland suchten die Schwäche des „kranken Manns am Bosporus“ auszunutzen. Sie verfolgten eigene territoriale und wirtschaftliche Interessen im Orient. Daher förderten sie die nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen der Balkanvölker. Die Nationalstaatsideen dieser Völker richteten sich in erster Linie gegen die türkische Herrschaft, doch gingen sie auch auf Kosten der jeweiligen Nachbarn. Ob Griechen, Serben, Bulgaren, Rumänen oder Albaner, jede nationale Erweckung war mit einem territorialen Maximalprogramm verbunden. Bereits während der Orientkrise 1875-1878 kam es zu Vertreibungen. Vor allem Türken, etwa aus Bosnien, waren die Opfer. Die Zeit arbeitete gegen die Vielvölkerreiche und für das Selbstbestimmungsrecht der kleinen Völker. Die beiden Balkankriege 1912/13 führten zu einer weitgehenden Verdrängung der Osmanen aus Südosteuropa.
Türkische Intellektuelle entwickelten nun einen neuen Staatsgedanken: Fort vom altertümlichen Vielvölkerreich hin zum „modernen“, ethnisch homogenen türkischen Einheitsstaat. Die territoriale Stoßrichtung sollte vom verlorenen Balkan weg nach Osten verlagert werden. Kleinasien („Anatolien“) wurde zur türkischen Urheimat (anavatan) erklärt, von wo aus alle Turkvölker vereint werden sollten („Pantürkismus“). Aus Europa übernommene Rassegedanken spielten bei diesen geostrategischen Überlegungen eine Rolle. Während des Ersten Weltkrieges nahm diese Ideologie radikale Formen an. Nicht-Muslime wie Armenier und Griechen, aber auch kleinere ethno-religiöse Gruppen wie die aramäischsprachigen Assyrer wurden ihre Opfer.
Die Massaker und Deportationen der armenischen Bürger des Osmanischen Reiches werden von der Mehrheit der Historiker und Genozidforscher als Völkermord gewertet. Türkische Regierungen bestreiten allerdings seit 1923 das Ausmaß und die Zielgerichtetheit der Verfolgung, verweisen auf die Dynamik der Kriegshandlungen sowie auf eigene Opfer. Die Deportationen und Massentötungen der Armenier im jungtürkischen Staat sind jedoch belegt und bezeugt, nicht zuletzt durch die zahlreich im Osmanischen Reich vertretenen deutschen Diplomaten.
Die armenische Bevölkerung hatte über Jahrhunderte im osmanischen Vielvölkerstaat weitgehend unbehelligt gelebt, wenn auch, wie alle Nicht-Muslime, rechtlich und steuerlich stark benachteiligt. Die im 19. Jahrhundert eingeleiteten gesellschaftspolitischen Reformen (1829-1876) blieben Stückwerk. Während des Russisch-Türkischen Krieges (1877/78) kam es zu Massakern an den Armeniern, weshalb das Osmanische Reich nach seiner Kriegsniederlage auf dem Berliner Kongress zum Schutz der armenischen Bevölkerung verpflichtet wurde. Doch unter der Herrschaft Sultans Abdülhamit II. (1876-1909) kam es 1894-1896 zu erneuten Massakern. Hoffnungen setzten die Armenier in die Machtübernahme der Jungtürken 1908. Sie wurden jedoch durch die Radikalisierung der Idee eines zentralistischen, ethnisch homogenen türkischen Nationalstaates zunichte gemacht. Nach dem Kriegs-eintritt des Osmanischen Reiches an der Seite Deutschlands und Österreich-Ungarns 1914 verschärfte sich die Haltung der jungtürkischen Regierung. Den Armeniern wurde pauschal Kollaboration mit Russland unterstellt. Ab März 1915 kam es zu Deportationen und massenhaften Ermordungen von Armeniern, die einen systematischen Zug entwickelten. Hochrechnungen gehen von 800.000 bis 1,75 Millionen Todesopfern aus.
Im Laufe der Balkankriege 1912/13 und des Ersten Weltkriegs erblühte unter den Griechen erneut die Megali Idea, d. h. die Idee von einem Nationalstaat, der alle griechisch besiedelten Gebiete auf dem Balkan und in Kleinasien (Istanbul, die Marmara- Region, Kappadokien und den Pontus an der Schwarzmeerküste) umfassen sollte. Der Megali Idea der Griechen stand die jungtürkische Nationalbewegung unter Mustafa Kemal (der sich später „Atatürk“ nannte) entgegen. Beide nationalistischen Ambitionen mündeten in den griechisch-türkischen Krieg 1919-1922, an dessen Ende die griechische Armee zur Räumung Kleinasiens gezwungen wurde. Hauptleidtragende jedoch waren die Zivilisten. Die in Griechenland „kleinasiatische Katastrophe“ genannte militärische Niederlage kulminierte in der Zerstörung der Hafenstadt Smyrna am 13.9.1922. Dem Großbrand und den türkischen Gewalttätigkeiten fielen etwa 15.000 Flüchtlinge und Einwohner zum Opfer, darunter auch der Erzbischof Chrysostomos von Smyrna. Tausende versuchten per Schiff zu fliehen. Nach diesem Initialereignis setzte ein großer Flüchtlingsstrom über Land und über die Ägäische See ein. Die Friedensverhandlungen mündeten in den Lausanner Vertrag vom 24.7.1923. Zugleich wurde auf der Grundlage eines Papiers von Fridtjof Nansen, des damaligen Flüchtlingskommissars des Völkerbundes, ein Umsiedlungsabkommen vereinbart. Es sanktionierte rückwirkend die bereits durchgeführten Vertreibungen der Griechen aus Kleinasien sowie der Muslime vom hellenischen Festland und den Inseln in die Türkei und besiegelte die Zwangsaussiedlung und -ausbürgerung der noch verbliebenen religiösen Minderheiten. Um der nationalstaatlichen Logik und des „Friedens“ willen mussten beide Bevölkerungsgruppen, ohne jede Wahlmöglichkeit, ihre Wohngebiete – mit Ausnahme von Istanbul und Teilen Westthrakiens – aufgeben. Es folgte eine sich über Jahrzehnte erstreckende schwierige Integration der Flüchtlinge und Zwangsumgesiedelten.